Die Würfel sind gefallen – die Richtung ist noch unbestimmt
Es ist der Abend des 22. September – der große Wahlsonntag. Unter dem Eindruck der ersten Hochrechnungen, der ersten Reaktionen aus den Parteien, der ersten Spekulationen zu Koalitionsbildungen und einem Telefonat zwischen Jork und Berlin ist dieser Leitartikel entstanden. Diese Zeilen entstehen also zeitgleich zu den Gremiensitzungen der CDU/CSU, in denen entschieden wird, mit wem und in welcher Reihenfolge Gespräche über eine Koalition geführt werden. In den vielen Gesprächen muss Bundeskanzlerin Merkel nun eine neue Bundesregierung klug zusammenführen. Peer Steinbrück hat im Vorfeld der Wahl und in diesem Zusammenhang vom „Satteln der Kavallerie“ gesprochen und damit keine Wählermehrheit angesprochen. Die nun anstehenden und unter diesen Voraussetzungen ganz sicher extrem schwierigen Koalitionsverhandlungen haben Ähnlichkeiten mit Entscheidungs- und Meinungsfindungsprozessen in unserem Verband.
Unser Verständnis einer guten Verbandsarbeit und einer erfolgreichen Interessensvertretung zeichnet sich durch Selbsthaftung und Eigenverantwortlichkeit aus. Dazu gehört zweifelsohne auch die reale Selbsteinschätzung eigener Grenzen und Handlungsoptionen. Deshalb kommt für uns bis heute kein Kavalleriesatteln oder ein Einsatz von Trillerpfeifen auf Straßendemonstrationen in Frage. Vielleicht kommt irgendwann auch die Zeit, diese Instrumente einzusetzen. Bis dahin wird die Fachgruppe Obstbau dort Erfolge verbuchen, wo in stabilen Netzwerken und strategischen Partnerschaften eine Zusammenarbeit möglich ist. Das stabilste Netzwerk von allen ist die eigene Verbandsstruktur der Fachgruppe Obstbau mit den Landesverbänden als Basis. Im Rahmen der Vorstandssitzungen und der Delegiertentagung werden die Beschlüsse gefasst, die der Arbeit der Fachgruppe als Maßgabe dienen. Wie auch in der Bundespolitik sind hier Geschlossenheit und Ehrlichkeit die wichtigsten Komponenten erfolgreicher Verbandsarbeit. Nur in einem starken Netzwerk lassen sich die Interessen eines vergleichsweise kleinen Berufsstandes vertreten. Konsistenz und Gemeinsamkeit stehen dabei an erster Stelle. Wir leben dies auch innerhalb des Bundesausschuss Obst und Gemüse (BOG) und sehen die Belange des deutschen Obstbaus in der Fachgruppe Obstbau gebündelt. Wir sind stolz darauf, dass auch andere Verbände dies so sehen. Vor zwei Jahren trat der Verband deutscher Heidelbeererzeuger aus dieser Grund der Fachgruppe Obstbau bei. Und in diesem Jahr hat der Verband Süddeutscher Spargel- und Erdbeererzeuger e.V. (VSSE) diesen Schritt getan. Wir sind dem VSSE für diese Entscheidung dankbar und haben ihn im Rahmen der diesjährigen Sommertagung gerne in unser Netzwerk aufgenommen.
Zu einer erfolgreichen berufsständischen Arbeit gehört nicht nur das Bündeln der Interessen, sondern auch das Weitertragen von Betroffenheiten an die Entscheidungsträger in Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. Dies lässt sich mit Trillerpfeifen auf der Straße machen oder in sachorientierten und faktenbasierten Gesprächen. Nicht immer kommt derjenige zu seinem Recht, der am lautesten schreit oder am meisten Worte gesprochen hat. Eine Meinungsführerschaft lässt sich besonders in einer großen und starken Gemeinschaft auf mehrere Schultern verteilen, wenn alle Beteiligte vertrauensvoll und respektvoll miteinander umgehen. Kritik und Meinungsvielfalt sind für uns positiv und deshalb gewünscht. Wir müssen aber mit einer Meinung nach außen auftreten, um uns nicht auseinanderdividieren zu lassen. Dies kann auch bedeuten, sich einer Mehrheitsentscheidung im Sinne der Gemeinschaft beugen zu müssen. Diese Kröte müssen in den Koalitionsverhandlungen auch die Parteien schlucken. Wir fordern den offenen und konstruktiven Dialog und zugleich laden wir alle Gruppen, denen das Wohl des deutschen Obstbaus am Herzen liegt, in unser Netzwerk ein.
Der Wahlkampf ist erst einmal vorbei. Nun heißt es, den gewählten Volksvertretern zu gratulieren, ihnen bei den Koalitionsfragen „hilfreich zur Seite zu stehen“ und zur richtigen Zeit an gemachte Versprechen zu erinnern. Landwirtschaft und Gartenbau dürfen nicht zum Spielball der Politik werden.
Jens Stechmann Jörg Disselborg
- Bundesvorsitzender - - Geschäftsführer -
Verwandte Artikel
Editorials
Zeitenwende – auch für den Obstbau?
Der Überfall der Ukraine markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.
Des Kaisers neue Kleider…
Manchmal lassen uns Aussagen von Exponenten der Bio- oder NGO-Szene aufhorchen.
Deutliches Votum der Delegierten für IP 2030
Mit gemischten Gefühlen sind wir beide am 12. Januar 2022 in die Schwerpunktveranstaltung der Delegiertentagung zur Vorstellung und Diskussion des Nachhaltigkeitsprojektes IP 2030 gegangen.
Sachkundenachweis für Minister?
Die durch die neue Bundesregierung geplante erhebliche Erhöhung des Mindestlohns sowie die in den vergangenen Monaten zu verzeichnende massive Steigerung auch anderer Produktionskosten bleiben die beherrschenden Themen auf den Betrieben in diesem noch jungen Jahr 2022.
Getrübte Stimmung zum Jahresende – Zeit zum Nachdenken
36 Obstbaubetriebe nehmen monatlich an der Geschäftsklimaumfrage des Zentralverbandes Gartenbau teil.
Erhöhung des Mindestlohns trifft den Obstbau mehr als hart
Das von den Verhandlungsführern der SPD, Grünen und FDP vereinbarte Ergebnis der Sondierungsgespräche kam leider nicht unerwartet.
Anwendungsverbot von Glyphosat in WSG faktisch nicht zu begründen
Zur Drucklegung dieser Zeilen wissen wir noch nichts über den Ausgang der Bundestagswahlen am 26. September.
Hochwasserkatastrophe – keine existentiellen Schäden in Obstbaubetrieben
Die verheerenden Schäden durch die Hochwasserkatastrophe ganz im Westen Deutschlands haben kaum vorstellbare Schäden verursacht
Einigung zum Aktionsprogramm Insektenschutz
Parallele Verhandlungen der Agrarministerkonferenz über die Pflanzenschutzanwendungsverordnung und der Ausschüsse Umwelt und Ernährung des Deutschen Bundestages über das Bundesnaturschutzgesetz haben zu einer Einigung zum Aktionsprogramm Insektenschutz geführt.
Der Umgang mit dem Risiko…
…von Schäden durch Blütenfrost, Hagelereignissen und Dürre ist eine der größeren Herausforderungen für den Obstbau.